Folgend werden die persönlichen Erfahrungen und Meinungen eines unserer Mitglieder von Viamor.de wiedergegeben...
Ich war noch nie ein sonderlich oberflächlicher Mensch. Genauso wenig hatte ich je ein sogenanntes Beuteschema, welches sich optisch sofort erkennen ließe. Statt dessen hatten aber alle meine Freunde, Freundinnen, Partner und Partnerinnen eines gemeinsam: Sie waren alle unheimlich schlau. Bereits in der Pubertät fühlte ich mich von langen Gesprächen und hitzigen Diskussionen mehr angezogen, als von heißen Körpern, Muckis oder einer besonders sexy Figur.
Über Sapiosexualität zu sprechen, kann für manche etwas befremdlich sein, oder sogar eingebildet oder hochnäsig klingen. Vor allem aber für solche, die vielleicht von Natur aus nicht so schlau sind, oder ein dementsprechend niedriges Selbstbewusstsein haben. Es ist aber so, dass mich durch meine Sapiosexualität tatsächlich ein scharfer Verstand mehr anmacht, als ein hübsches Gesicht. Ich bekomme Gänsehaut, wenn mich mein Gegenüber in eine faszinierende Unterhaltung verwickelt und ich kann an den Lippen meines Partners hängen, wenn er über spannende Themen referiert.
So haben wir alle unsere unterschiedlichen Vorlieben. Eine liebe Freundin fühlt sich nur bei Partnern wohl und geborgen, die über ein ordentliches Bankkonto verfügen. Auch das ist absolut legitim und verständlich, wenn man ihren Background kennt. Sie würde sich nie bei einem armen Schlucker fallen lassen können, egal wie intelligent oder gutaussehend dieser ist.
Ein guter Freund von mir fühlt sich lediglich von großen, sehr schlanken und dennoch wohlgeformten Frauen mit blonden, langen Haaren angezogen. Wir haben in der Clique versucht, ihn mit klugen und auch durchaus hübschen Frauen zu verkuppeln. Mit diesen entwickelte sich auch immer eine Freundschaft, sexuell fühlte er sich aber von diesen nicht angesprochen. Bei mir ist es so, dass meine Sapiosexualität sehr stark ausgeprägt ist. Kann mir der oder die Partnerin auf geistiger Ebene nicht das Wasser reichen, so habe ich auch absolut keine Lust auf mehr.
Die ersten Erfahrungen mit meiner Sapiosexualität
Während der ersten Schritte beim Dating und bei den ersten sexuellen Erfahrungen hatte ich natürlich noch keine Ahnung von Sapiosexualität. Und dennoch war diese bereits zu jenem Zeitpunkt stark ausgeprägt. Ich war vielleicht 16 Jahre alt und himmelte von Weitem den Bruder einer Freundin an. Ich hatte noch nie mehr als drei zusammenhängende Worte mit ihm gesprochen, war aber einfach von seinem Gesicht und seinem Lachen fasziniert. Nach Wochen des fernen Anhimmelns kamen wir uns näher und er lud mich auf ein Date ein. Ich machte mich besonders chic und war so aufgeregt. Noch heute kann ich mich erinnern, wie stark mein Herz geklopft hatte. Er holte mich mit seinem Auto ab und er war ganz stolz, dass er endlich den Führerschein geschafft hatte. Zum ersten Mal zuckte ich zusammen, als er mir lachend erzählte, dass er für die Prüfung drei Anläufe benötigt hatte. Ich quälte mir auch ein Lächeln ab und wollte nicht unhöflich wirken.
Wir gingen in ein schnuckeliges Kaffeehaus. Ich begann über mich zu erzählen und stellte Fragen. Irgendwie wollte aber keine so echte Unterhaltung in Gang kommen. Pausenlos wollte ich seine Aussprache und seine Grammatik verbessern. Zu allem Unheil kamen auch Schulfreunde ins Lokal und wollten sich zu uns setzen. Ich wurde kreidebleich und betete nur inständig, dass der Kerl doch bitte nur dasitzen, dekorativ lächeln und um Gottes Willen bitte nichts sagen sollte. Später fuhr er mich nach Hause, das Küsschen landete halbherzig auf meiner Wange und für das nächste Date hatte ich eine Ausrede. So schön dieser Typ auch war, sobald er den Mund aufmachte und etwas sagte, wollte ich nur davonlaufen. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ich diesen schönen Mund küssen wollte, geschweige denn mehr.
Warum meine Sapiosexualität meine Mama erschreckte
Sapiosexualität kann zu erheblichen Problemen führen. Meine Eltern hatten einen guten Freund, der gerade frisch geschieden war und viel Zeit bei uns verbrachte. Dieser Mann war klein, dürr, alt für mein Verhältnis und unheimlich klug. Sein Humor zog mich magisch an und sobald er nur irgendwas erzählte, fingen die Schmetterlinge in meinem Bauch zu tanzen an. Wir konnten uns stundenlang über Musik, Geschichte, fremde Länder und Bücher unterhalten. Natürlich kamen wir uns auch rasch körperlich näher und es ließ sich irgendwann auch nicht mehr verheimlichen. "Wie kannst du nur mit so einem alten, knochigen und hässlichen Mann ins Bett steigen?" Meine Mutter war außer sich. Ich konnte sie aber nicht verstehen. Dank meiner Sapiosexualität sah ich nicht den Körper. Mir fiel es nicht auf, dass er bereits tiefe Falten hatte und auch dass er mehr als doppelt so alt als ich war, störte mich nicht. Wir hatten eine relativ lange Beziehung, die sowohl geistig, als auch körperlich total erfüllend für mich war. Nachdem ich damals aber noch so jung war und mich erst finden wollte, ging diese mit der Zeit auseinander. Die Sapiosexualität begleitete mich aber auch fortan bei der Wahl meiner Partner.
Sapiosexualität und One Night Stands
Auch ich hatte die Phase der One Night Stands. Doch auch hier war alles von meiner Sapiosexualität geprägt. Ich konnte nicht automatisch mit einem Partner die Nacht verbringen, wenn wir uns zuvor nur quer über die Theke angeflirtet hatten. Wenn ich Glück hatte, kam auf dem Weg ins Bett ein gutes Gespräch zustande. Konnte ich jedoch mit dem Gegenüber keinen vernünftigen Satz wechseln, so wurde es auch mit dem Sex nichts. Wäre ich ein Mann, ich denke, ich hätte einfach keinen hoch bekommen, wie man so salopp sagt. In dieser Zeit wurde ich aber sehr kreativ mit dem Erfinden von Ausreden und mehr als einmal flüchtete ich, bevor es zur Sache ging.
Warum die Digitalisierung ein Hit für Sapiosexualität ist
Hätte es damals bereits Chat-Portale und Co gegeben, ich hätte mir viel erspart. Sapiosexualität und Chatten passen zueinander wie die Faust aufs Auge. Bei einer ausgeprägten Sapiosexualität ist es geradezu wichtig, den anderen während langer, schriftlicher Gespräche kennenzulernen. So lässt es sich herrlich aussortieren. Durch die Sapiosexualität ist es auch nicht wirklich wichtig, wie das Gegenüber am anderen Ende des Keyboards aussieht. Ich denke ich könnte auch durchaus damit leben, wenn der Flirtpartner mit seinem Alter, Aussehen, Job, Gewicht oder mit seinen Finanzen etwas geschummelt hätte.
Sapiosexualität bedeutet, dass ich mich ausschließlich in den Geist und den Intellekt des anderen verlieben kann. Dabei ist es überhaupt nicht wichtig, ob es eine Frau oder ein Mann ist. Anregende Gespräche, lustige und anregende Konversationen und Unterhaltungen auf gleicher geistiger Ebene sind so sexy, dass alles andere egal ist.
Sapiosexualität ist zwar nicht einfach zu erklären und zu verstehen - vor allem aber ist sie eines nicht - oberflächlich.