Folgend werden die persönlichen Erfahrungen und Meinungen von Nadine Primo wiedergegeben...
Irgendwie hatte ich die letzte Zeit das Gefühl, die Fragen sammeln zu müssen, die ich am meisten zu hören bekomme. Sicherlich hat es auch etwas mit Faulheit zu tun, denn irgendwann ist es doch auffällig wie oft man das Gleich zu hören bekommt und wie sehr man dazu neigt, einfach nur noch den gleichen Monolog runterzulabern… Hier einmal zusammenfassend, von einem alten Interview inspiriert und neu aufbereitet: Fragen, die ich in den letzten 2,5 Jahren immer wieder gestellt bekam. Übrigens: Bekannte Pärchen, die dasselbe Beziehungskonstrukt leben, berichten von ähnlichen Ängsten und ehrlichen Meinungen, die sie immer wieder erreichen. Manchmal Neugier, manchmal Unverständnis. Aber in erster Linie: immer mehr Toleranz! Zeiten ändern sich… wie wir unsere Beziehungen leben wollen offensichtlich auch!
Bedeutet „offen leben“ automatisch „poly sein“?
Nein. Eine offene Beziehung bedeutet in erster Linie, dass hier Dritte als Affären oder einfach nur sexuelle Abwechslung/Abenteuer dienen. Polyamour zu leben bedeutet hingegen, zu mehreren Menschen eine Art Liebesbeziehung zu führen. Eine offenes Beziehungskonstrukt impliziert diese romantische Komponente nicht zwangsläufig. Natürlich kann man sich auch in seine Affäre verlieben. Ausnahmen bestätigen die Regel. Kurz könnte man sagen, dass Polyamorie bedeutet, mehr als eine Person zur selben Zeit erotisch zu lieben. Im Gegensatz zum Fremdgehen geschieht dies hier mit der Einwilligung sämtlicher Beteiligten. Um Polyamorie von anderen nicht monogamen Lebensstilen abzugrenzen, gehören ein paar wesentliche Merkmale […]: 1. Poly ist nicht „Betrügen“; 2. Poly ist nicht patriarchale Polygynie; 3. Poly ist nicht Swinging.
Liebst du ihn einfach nur nicht so richtig?
Jeder Mensch liebt auf seine Art und Weise. Wenn sich zwei Menschen finden, die auf die gleiche Weise lieben, ist das ein wunderschönes Geschenk. Liebe ist wandelbar, unerschöpflich und allgegenwärtig. Man kann sie nicht in ein Raster pressen, denn dann würde man sie ihrer Fülle berauben. Die Antwort auf diese Frage lautet also: Oh doch. Ich liebe ihn so sehr, dass ich ihn weder zurückhalten noch über seine Bedürfnisse entscheiden möchte. Ich will ihm zeigen, dass meine Liebe bedingungslos ist und nicht an irgendwelche „Exklusivrechte“ geknüpft.
Willst du dich einfach nur nicht festlegen und warten bis wer Besseres kommt?
Natürlich möchte ich mich nicht festlegen. Wer will das schon? Dann müsste ich mich ja jedes Mal rechtfertigen, wenn ich einmal gegen meine vorher getroffene Entscheidung agiere. Wie anstrengend. Meine Beziehung möchte ich lebendig leben, wie das Leben. Es kommt schließlich immer anders als man denkt. Außerdem haben unsere Dates keinen Bezug zu unserem Alltag. Wir treffen Menschen außerhalb unseres Freundes- und Bekanntenkreises, demnach entstehen keine Berührungspunkte und wir leben in erster Linie als Paar – ebenso präsentieren wir uns nach außen. Unsere Abenteuer beschränken sich einfach auf eine Ebene, die unser Beziehungsleben nicht infrage stellt. Wir suchen bei unseren Treffen nicht nach jemand Besserem, sondern einfach nur nach jemand anderem. Für eine kurze Zeit eben. Sobald Bedürfnisse innerhalb der Beziehung nicht mehr befriedigt werden und Dates fortan eine Gefahr darstellen könnten, müssen die Karten eben auf den Tisch gelegt werden. Ebenso wie in einer monogamen Beziehung. Fremdgehen kann dort auch in den meisten Fällen nur mit Offenheit und Ehrlichkeit verhindert oder zumindest im Nachhinein erklärt werden.
Hast du keine Angst, den Fokus zu verlieren, wenn du dich nicht ausschließlich auf einen (Geschlechts-)Partner konzentrierst?
Ich finde es naiv zu glauben, dass ein Mensch allein für die Gesamtheit der eigenen Bedürfnisse „aufkommen“ muss. Ist das nicht ganz schön viel Druck, den man seinem Partner so bereits zu Beginn auferlegt? Sind das nicht eine Menge Erwartungen, die nicht erfüllt werden können/erfüllt werden müssen? Im Alltag sehnen wir uns doch auch schließlich ständig nach mehr Freiheit; Selbstverwirklichung… Warum dann nicht auch in der Liebe? Außerdem stellt Sex eben in erster Linie einen Trieb für uns da, der keine Gefahr darstellt. Klar, ist es einfacher sich das immer wieder vor Augen zu führen, wenn die Affären eben nicht ständig deinen Weg kreuzen. Auch das händelt jedes Paar wieder anders. Kommt ganz drauf an, wie viel du persönlich wissen und „live“ erleben willst.
Gibt es denn sowas wie Eifersucht bei euch gar nicht?
Oh doch! Auch in polyamoren und offenen Beziehungen gibt es Eifersucht. Die Frage sollte demnach lauten, wie man damit umgeht. In alternativen Beziehungskonzepten steht nicht das Was, sondern das Wie im Fokus der Diskussion. Es geht also nicht darum, dass man mit jemand anderem geschlafen hat/intim wurde, sondern wie das Ganze von statten ging. Wie habe ich das Ganze kommuniziert? Wie habe ich meinen Partner vor unangenehmen Gefühlen geschützt und (Verlust-)Ängste genommen? Die Antwortet lautet also definitiv: Ja! Aber da Eifersucht kein schönes Gefühl ist und lähmend wirken kann, ist es eine bewusste Entscheidung sich mit ihr zu befassen. Gefühle ändern sich: Sie bringen einen um den Verstand; sie flachen ab; sie kommen wieder; sie verschwinden schließlich oder verwandeln sich im Laufe der Zeit in ein kaum merkliches Zwicken, welches einen lediglich noch an die anfänglichen Qualen erinnert. Und irgendwann kannst du dich sogar für deinen Partner freuen, wenn er gut gelaunt mit frisch poliertem Selbstbewusstsein oder einfach nach einer witzigen, feucht und fröhlichen Nacht nach Hause oder zum nächsten Treffen kommt. Mitfreude. Echt ein schönes Wort.
Wie gehst du mit den „Schattenseiten“ dieses Konstrukts um, z.B. wenn dir der Gedanke weh tut?
Womit wir auch schon beim Knackpunkt angekommen wären. Tückisch. Man möchte nicht selbstgerecht erscheinen, jedoch versetzt einem der Gedanke, der Partner könnte sich gerade mit wem anders feucht und fröhlich vergnügen ein Stechen in der Magengrube. Mir hilft es in solchen Momenten immer sehr die Situation zu „spiegeln“, denn in dem Moment, in dem ich mir klar mache, wie viel diese sporadischen Fremdvögeleien mir persönlich bedeuten und inwiefern sie die emotionale Bindung zu meinem Partner gefährden (…nämlich gar nicht!) ist alles nur noch halb so wild. Klar erlebt man auch unschöne Zeiten voller Selbstzweifel sowie Verlustängsten und selbstverständlich gibt es auch Phasen, in denen einen die nächtlichen Ausflüge des Partners echt zu schaffen machen. Aber am Ende ist doch nichts umsonst im Leben und so ein angelerntes bzw. anerzogenes Verhalten (kapitalistisches Besitzdenken) verabschiedet sich eben auch nicht über Nacht. Aber sobald auch in der letzten Hirnregion die Botschaft angekommen ist, dass der Partner/die Partnerin auch am nächsten Tag wieder lächelnd vor einem sitzt und alles seinen gewohnten Gang geht, ebben auch die negativen Emotionen dem ganzen gegenüber ab.
Gibt es dennoch Regeln bei euch? Oder Grenzen, Orientierungswerte…?
Ja, gibt es. Witzigerweise haben sich diese im Verlauf der Jahre immer wieder geändert. Anfangs war es uns besonders wichtig, dass wir die Person jeweils nur einmal gesehen haben. Außerdem haben wir uns meistens auf die Wochenenden oder Tage beschränkt, an denen wir beruflich nicht in der Stadt waren. Freunde und Bekannte waren, und sind es auch weiterhin, tabu. Darüber hinaus hat jeder von uns ein Veto-Recht, welches z.B. zum Tragen kommt, wenn der eine sich beispielsweise einfach nicht so gut fühlt an dem Tag der „Verabredung“ oder ein Problem mit der Person des Begehrens hat. Wie auch immer – ein Recht, in dem Moment das eigene Bedürfnis nach Nähe und Zweisamkeit respektiert zu wissen. Das Recht haben wir beide bis heute. Im Laufe der Zeit haben wir uns allerdings von der „Einmaligkeits“-Klausel verabschiedet und gestatten uns somit regelmäßige Affären. Außerdem ist es auch kein Thema mehr, ob wir uns in derselben Stadt oder an unterschiedlichen Orten befinden. Wenn man keine Zeit hat, hat man keine Zeit. Oder keinen Bock – wie auch immer… Aber dann kann ja auch jeder machen, was er will.
Aber was ist, wenn er sich verliebt oder der Sex mit ihr besser ist? Wieviel erzählt ihr euch?
Okay, erst einmal: Auch in einer monogamen Beziehung ist man nicht davor geschützt, dass der Partner sich eventuell irgendwann zu wem anders hingezogen fühlt und einen – im schlimmsten Fall – sitzen lässt. Hierbei zählt Vertrauen. Vertrauen ist gut – Kontrolle ist abfuck. So lange eine Beziehung nicht auf Vertrauen beruht, ist sie zum Scheitern verurteilt. Letztlich liegt es an uns beiden zu fragen, was wir genau von den sexuellen Abenteuern des anderen wissen wollen. Bis dato beschränken wir uns eigentlich immer ziemlich genau auf das Motto: so viel wie nötig – so wenig wie möglich. Von den Verabredungen des Andren wissen wir eigentlich immer im Vorhinein. Ansonsten wäre es auch schwer ein Veto-Recht einzulegen, falls der Tag einfach nicht geeignet dafür scheint. Aber als ich beispielsweise für einen Monat allein am anderen Ende der Welt reisen war, haben wir uns erst im Nachhinein von unseren Schäferstündchen berichtet. Hier muss jedes Paar seinen eigenen Weg finden. Die einen erzählen sich direkt alles, die anderen warten damit lieber eine gewisse Zeit. Alles kann, nichts muss. Hauptsache keinen Druck erzeugen. Gefühle ändern sich nicht von heute auf morgen – und schon gar nicht unter Druck.
Mit Welchen essenziellen Dingen schafft mein eine derart enorme Vertrauensbasis?
Offenheit und Kommunikation sind die Kernelemente einer offenen Beziehung. Allerdings fällt es nicht jedem leicht, offen und frei über seine Gefühle/Gedanken/Ängste zu reden. Im besten Fall ist beiden Partnern klar, dass es hierbei lediglich um einen Trieb und (oftmals) Steigerung des eigenen Selbstwerts geht. Natürlich ist es wichtig, dem Partner im Gegenzug immer wieder zu zeigen, dass er trotz des temporären Vergnügens mit Dritten weiterhin die Nummer 1 ist. Ob man das jetzt in Form von Gesten und Gesagtem oder Geschenken vermittelt sei dabei jedem Pärchen selbst überlassen. Hauptsache es hagelt Anerkennung, woraus wiederum ein tiefes Vertrauen entstehen kann. Und nicht zu vergessen: das überwältigende Gefühl tiefer Verbundenheit, wenn man gemeinsam bemerkt, wie stark und unzerstörbar man sich als Paar gegen den Rest der Welt empfindet. Nicht einmal der fremde Sex kann das Glück dieses Moments bedrohen. Man kann eben doch beides haben, wenn man es will. Das muss am Ende jeder für sich selbst wissen.
Brauchst du so viel Sex bzw. ist dir Sex so wichtig? Kommt es oft vor, dass ihr andere trefft?
Es gibt sie, diese Momente. Wo sich die Gelegenheit bietet der eigenen Lust nachzugehen… im besten Fall ohne Rücksicht (nehmen zu müssen) auf Verluste. Das Leben besteht aus Phasen, ebenso eine Beziehung. Am Anfang der Beziehung verabredeten wir uns zum Beispiel gar nicht mal so oft. Die rosa-rote Brille eben. Die Beziehung erst später zu öffnen, kam uns nicht in den Sinn. Warum? Vielleicht, weil es nur etwas von “aufschieben” gehabt hätte. Schließlich wussten wir bereits beide, dass wir nicht-monogam leben wollten. Ob das im Nachhinein die richtige Entscheidung war, sei mal dahingestellt. Aber es war eben unsere Entscheidung. Nur weil etwas erlaubt ist, heißt das aber nicht, dass es ständig passiert oder besonders gut ist. Irgendwann wird es eben normal. Es wird kein riesen Aufsehen mehr drum erregt. Warum auch? Das wäre ja auf die Dauer auch einfach nur zehrend. Trotzdem sind Momente des Zweifels immer erlaubt, ebenso in einer monogamen Beziehung. Zurück zum Thema: phasenweise daten wir wöchentlich, dann wieder monatlich. Wie auch immer. Wie es eben gerade passiert. Es gab eigentlich schon alles an Phasen. Der eine mehr, der andere weniger - und andersherum natürlich auch.
Was ist der prägnanteste Unterschied zwischen einer monogamen und einer nicht-monogamen Beziehung?
Fazit: Eine offene Beziehung stellt den Sex eben nicht in den Vordergrund, denn er stellt keine zerstörerische bzw. gefährdende Kraft dar. Im Mittelpunkt dieser alternativen Beziehungskonzepte steht die emotionale Verbindung der beiden Partner zueinander. Die Liebe eben.
Und was ist, wenn ihr mal Familie wollt?
Gute Frage. Darauf habe ich keine Antwort. Außer: auch hier wird sich bestimmt eine Lösung finden, denn darin sind wir im Laufe der Zeit verdammt gut geworden: Lösungen zu finden. Lösungen, mit denen beide Parteien auch längerfristig mit gutem Gewissen leben können. Wenn die Zeit (und gegebenenfalls das erste Kind) gekommen ist, werde ich bestimmt auch auf diese Frage eine Antwort geben können. Aktuell kann ich lediglich auf Patchwork-Familien und „Zweitfamilien“ hinweisen, die ebenfalls ein Gegenmodell zu der herkömmlichen Verbindung „Mutter-Vater-Kind“ darstellen. Hier haben zumindest in manchen Fällen auch mehrere Erwachsene Einfluss auf die Erziehung des Kindes.
Aber ist diese Art zu leben nicht eigentlich „anti-evolutions-biologisch“ und verstößt gegen unsere Urinstinkte?
Der Mensch ist zwischen schätzungsweise 150.00 – 300.000 Jahre alt und lebt erst seit ca. 12. 000 Jahren zivilisiert - mehr oder weniger. Ich denke, dass die Biologie uns deutlich stärker beeinflusst als uns bewusst ist und wir wahrhaben möchten. Monogamie ist in unseren Genen ursprünglich nicht einprogrammiert. Wie stark ein Trieb ist, erkennt man daran, wie aufwendig es ist, diesen zu unterdrücken. Wenn Sex angeblich lediglich zur Fortpflanzung dient und somit eher ein Pflichtakt als Freizeitspaß sein müsste: Wieso gibt es dann so viel sexuelle Gewalt? Wieso leiden so viele Menschen an sexuellen Störungen? Wieso gehen Ehen, Familien, Freundschaften, Partnerschaften an Sex kaputt? Wieso ist die Pornoindustrie größer und ertragreicher als jede andere Industrie auf diesem Planeten? Wieso gibt es so viele Missbrauchsfälle in der (katholischen) Kirche, wenn der Zölibat doch angeblich gottgegeben und menschlich ist? Wieso gibt es immer mehr Single-Haushalte und Scheidungsraten so hoch wie nie zuvor?
„Serielle Monogamie: Lassen sie sich scheiden und fangen Sie von vorne an. Diese Option ist die scheinbar „ehrliche“ Variante, die von den meisten Experten empfohlen wird, darunter auch viele Paartherapeuten. […] Serielle Monogamie ist eine sympathische Reaktion auf den Widerspruch zwischen dem, was die Gesellschaft vorschreibt, und dem, was die Biologie einfordert. […] Auch wenn die Flucht in die serielle Monogamie als die anständige Entscheidung bezeichnet wird, so hat sie doch zur derzeitigen Epidemie der zerstörten Familien und alleinerziehenden Eltern geführt.“
(Hierzu mehr: Jétha/Ryan: Sex. Die wahre Geschichte, Klett-Cotta 2016.)
Fraglich also, welches Verhalten in der Liebe bzw. Beziehungskonstrukt am Ende wirklich „anti-evolutions-biologisch“ ist.